Christiane Geiser
Der Schriftsteller und die Welt
14.12.2010
In den „Zeilensprüngen“ im Radio DRS II heute morgen ein Ausschnitt aus einem Brief, den Dürrenmatt 1986 an Frisch geschrieben hat.
Wenn wir schon beide ältere Herren geworden sind, eine Tatsache die, daß sie einmal eintreten könnte, ich nie ins Auge gefaßt habe, so weiß ich nicht, ob wir einander kondolieren oder gratulieren sollen. Wie es auch sei, wir haben uns beide wacker auseinander befreundet. Ich habe Dich in Vielem bewundert, Du hast mich in Vielem verwundert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Jedem seine Narben. Diese Zeilen schreibe ich nicht ohne Nostalgie. Ich habe mich nie sonderlich um die Schriftstellerei unserer Zeit gekümmert, du bist seiner Zeit einer der wenigen gewesen, die mich beschäftigt haben – ernsthaft beschäftigt wohl der Einzige. Als einer, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schreibens vorgekommen. Daß wir uns auseinanderbewegen mußten, war wohl vorgezeichnet, ohne daß ich damit eine literaturgeschichtliche Prädestinationslehre aufstellen möchte.
Die Fragen nach dem Verhältnis von Ich und Welt, nach Individuellem und Allgemeinem sind für Schreibende wesentlich, auch heute.
„Die Welt vollzieht sich am eigenen Ich, nirgends sonst“, schreibt Frisch in seinem ersten Tagebuch, während Dürrenmatt formulierte „… das Private höflich wahren, den Stoff vor sich wie ein Bildhauer sein Material“.
Höchst inspirierend fand ich vor 10 Jahren einen Essay des Zürcher Professors für Literaturwissenschaft Peter von Matt (inzwischen emeritiert), den er zum 10jährigen Todestag Dürrenmatts schrieb und in dem er die Positionen Frischs und Dürrenmatts zueinander in Beziehung setzt.
Auch wir, die wir mit Menschen arbeiten, die uns ihre eigene Geschichte erzählen, auf die wir wiederum als Personen, mit unseren eigenen Resonanzen antworten, bewegen uns in diesen Fragen. Psychotherapie als Nabelschau? Als Probehandeln für die Welt? Als korrigierende Beziehungserfahrung? Als Suche nach Wahrheit? Nach Wirklichkeit?